Lexikon
Pleinairismus und Künstlerkolonien

Pleinairismus oder Freilichtmalerei (französisch pleinair: in freier Luft) bezeichnet ein Phänomen, das längst nicht nur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war, zu dieser Zeit aber eine besonders üppige Blüte entfaltete.
Allgemein beschreiben Pleinairismus und Freilichtmalerei eine Art der Malerei, die im Gegensatz zur Atelierkunst nicht in der Werkstatt oder einem anderen Innenraum, sondern in der Natur ausgeübt wird. Zumeist entstehen Landschaften "pleinair", aber auch Bildnisse und szenische Darstellungen können als Freilichtmalereien aufgefasst sein. Freilichtmalerei oder Pleinairismus erzeugt Kunstwerke, die ein besonders intensives Verhältnis zur dargestellten Wirklichkeit aufweisen, da spezifische Licht- und Farbwirkungen sowie die natürliche Helligkeit unmittelbarer in das Bild übertragen werden können.
Bereits in der Renaissance scheint der Pleinairismus praktiziert worden zu sein: Leonardo da Vinci beschrieb in seinem Traktat die Vorzüge des natürlichen Lichts, und manchen Malern des frühen 16. Jahrhunderts - etwa den Mitgliedern der sogenannten "Donauschule" - wurde von der Forschung eine pleinairistische Malweise unterstellt.
Im niederländischen Barock, als die Gattung der Landschaft geboren wurde, nahm die Freilichtkunst einen enormen Aufschwung, wenngleich nur Studien nach der Natur gefertigt wurden und die Gemälde selbst Atelierbilder blieben.
Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wirkte die Naturphilosophie von Jean-Jacques Rousseau befruchtend auf die weitere Entwicklung der Freilichtmalerei: Das Verhältnis des Künstlers zur Natur war bald im Wandel begriffen, wie zahlreiche, oftmals auf Rousseau aufbauende theoretische Schriften über die Landschaftskunst bezeugen. Zu jener Zeit tat sich besonders England auf dem Gebiet der Freilichtmalerei hervor: Die romantisch-realistische Landschaftskunst von John Constable (1776-1837) und, über dessen Studien noch hinausgehend, William Turner (1775-1851), wirkte stichwortgebend für die weitere Entwicklung von Pleinairismus und Impressionismus. In Deutschland zeigte etwa Carl Blechen (1798-1840) pleinairistische Tendenzen, wenn er das flirrende Licht der Sonne zum eigentlichen Sujet seiner Werke machte.
Doch erst in Frankreich entwickelte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Pleinairismus als breite künstlerische Bewegung: Eine regelrechte Modewelle verbreitete die Freilichtmalerei - eine spezifisch antiakademische Vorgehensweise - bald in ganz Europa.
Die Schule von Barbizon steht am Beginn dieser Entwicklung. Ihrem Beispiel (wenngleich es auch zuvor schon einige Künstlerkolonien gab) folgte man in ganz Europa: Moderne Maler übersiedelten gemeinsam in ländliche Gegenden und bildeten Kolonien, um dort in Abkehr von akademischer Erstarrung in der freien Natur zu malen und das natürliche Licht in ihren Werken einzufangen. Stadtflucht, die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit in der Natur im Gegensatz zu zunehmender Industrialisierung und eine positivistische Grundhaltung begünstigten die Entstehung der Künstlerkolonien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Zumeist ging mit dem Leben in der Natur eine pleinairistische Kunstauffassung einher, wenngleich in den Kolonien weder ausschließlich unter freiem Himmel und noch ausschließlich Landschaften gemalt wurden: Hervorzuheben ist auch die häufige Hinwendung zu volkstümlichen Genres und bäuerlichen Sujets. Dennoch war es gerade der Aspekt der Freilichtmalerei, der die Malerkolonien prägte und die Kunst auch unabhängig von diesen Zusammenschlüssen revolutionierte: Realismus und Impressionismus konnten auf den Errungenschaften des Pleinairismus aufbauen.
Selbst die Künstler des Expressionismus arbeiteten noch häufig pleinair. Die "Brücke" sowie die "Murnauer" Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky waren in Kolonien zusammengekommen und ließen sich von den Lichtwirkungen der Natur inspirieren, wenngleich ihre Idee von Kunst diese Praxis nicht mehr zwingend forderte.