Lexikon
Stahlrohr-Möbel

Neue Werkstoffe eroberten in den 1920er Jahren die Innenräume, doch kaum ein anderes Material hat das Wohnen so revolutioniert wie Stahlrohr. Stahlrohr-Möbel wurden zum Inbegriff des "Neuen Wohnens" und haben bis heute nicht an Popularität verloren.
Schon seit dem Jahrhundertwechsel wurden, besonders für Krankenhäuser und Gefängnisse, Metallmöbel produziert, doch imitierten diese Entwürfe lediglich Holzmöbel, ohne formale Neuerungen einzuführen. Aus dieser Bewertung des Materials wird es vielleicht erklärlich, dass das revolutionäre Stahlrohr-Kragstuhl-Gestell des Stuttgarter Schlossers Gerhard Stüttgen noch 1923/24 völlig unbeachtet blieb.
1925 folgte jedoch der Durchbruch: Am Dessauer Bauhaus entwickelte Marcel Breuer, angeregt vom Fahrradbau, mit dem Sessel "B 3" den ersten Stahlrohrstuhl. Marcel Breuer besorgte daraufhin die Ausstattung der Bauhaus-Aula mit Stahlrohrsitzen und wurde zu einem der wichtigsten und produktivsten Stahlrohr-Designer. Auch Mart Stam wählte für seinen Kragstuhl Stahlrohr, negierte dabei jedoch die unter bestimmten Umständen federnde Eigenschaft des Werkstoffes, die Ludwig Mies van der Rohe zur Erfindung des Freischwingers aus kaltgezogenem Stahlrohr führte.
Nachdem Stahlrohr-Möbel anfänglich farbig lackiert wurden, führte bald, am frühesten bei Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe, eine Verchromung oder Vernickelung zu jener unterkühlten "Maschinenästhetik", die bis heute charakteristisch für Stahlrohr-Möbel geblieben ist. Die Bespannung von Stahlrohr-Möbeln sollte möglichst leicht und luftig wirken, was mit Eisengarn, Textil oder Geflechten erzielt wurde. Erst in den 1930er Jahren entstanden auch eher wuchtig gepolsterte Stahlrohr-Möbel, die den Geschmack der Masse trafen. Ein Zugeständnis dieser Art waren bald auch Armlehnen, die dem Schwung des Stahlrohres folgten, anstatt spröde auf der eigenen Form zu bestehen.
Für die große Öffentlichkeitswirkung von Stahlrohr-Möbeln, die sich auch in der Ausstattung von Omnibussen um 1930 widerspiegelt, sorgte zuerst die Stuttgarter Werkbundausstellung von 1927: In den Musterwohnungen am Weißenhof standen Stahlrohr-Möbel von Mart Stam, Ludwig Mies van der Rohe, den Brüdern Rasch und anderen. 1928 folgte die Stuttgarter Ausstellung "Der Stuhl", die ebenfalls zur Popularität von Stahlrohr-Möbeln beitrug.
Bald wurden dank der gestiegenen Nachfrage industrielle Fertigungsmethoden möglich: Während Mies van der Rohe seine Stahlrohr-Freischwinger zunächst noch in Kleinauflagen bei "Berliner Metallgewerbe Joseph Müller" fertige, fühlte sich "Standard Möbel", von Marcel Breuer und Kalman Lengyel gegründet, zur gezielten Vermarktung berufen. "Standard Möbel" und die Nachfolgefirma "DESTA" wurden 1929 bzw. 1932 von der renommierten Firma "Thonet Frères" übernommen, die in der Folgezeit zum bedeutendsten Hersteller von Stahlrohr-Möbeln avancieren sollte. Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe, Le Corbusier und viele weitere namhafte Designer kooperierten mit "Thonet". Daneben wirkten "Schapermöbel", "Drabert", "Mauser" und "wohnbedarf Zürich" in der Stahlrohr-Möbel-Produktion.
Nach dem Krieg knüpften zwar einige große Firmen an die Stahlrohrmode der späten 1920er und 1930er Jahre an, doch erst 1963 sollte die zweite große Zeit der Stahlrohr-Möbel anbrechen: Der Strom der Neuherausgaben klassischer Stahlrohrmodelle aus der Bauhauszeit, an dessen Anfang "Gavina" mit Marcel Breuers "B 3" (als "Wassily"-Stuhl) steht, reißt bis heute nicht ab.

Vgl.: Vegesack, Alexander von: Deutsche Stahlrohrmöbel. 650 Modelle aus Katalogen von 1927-1958, München 1986.